Marokko-Tagebuch
Autoroute Kenitra-Rabat, Oasis-Café
Was dem Hellmän und mir beim vorletzten Tripp in Moulay-Idriss passiert ist, findet diesmal in Chefchaouen statt: Der König und sein Tross werden in der Stadt erwartet. Kein besonderer Anlass, einfach so. „Le roi aime Chefchaouen“, erklärt man mir.
Natürlich sind sämtliche Hotels mit irgendwelchen Honoratioren, Beamten und Securitée-Leuten belegt. Ich kann froh sein, vor lauter Hofstaat überhaupt noch ein Zimmer zu bekommen; wenn auch nicht im Hotel Parador mit der unfassbaren Aussicht, auf die ich mich den ganzen Weg über gefreut habe.
Rote Fahnen mit grünem Stern wohin man auch schaut, und hinter Absperrgittern am Straßenrand bereitstehende Jubler mit Papierfähnchen. Hatte mich zwischen Ceuta und diesem hübsch verschlafenen Bergstädtchen schon über die Polizei und die Flaggendichte gewundert; überhaupt sah alles ungewöhnlich ordentlich und herausgeputzt aus.
Den Nachmittag und den Abend verbringe ich in der Medina, beschließe aber, nur eine Nacht hier zu verbringen: Es ist definitiv zuviel los in Chefchaouen. Heute Morgen stelle ich allerdings fest, dass der König offensichtlich auch geruht weiterzureisen: Und die wahren Dimensionen dieses Unterfangens werden mir erst auf dem Weg nach Ouazzane bewusst.
So passiere ich kurz hinter der Ortsausfahrt ein riesiges Feld voller Helikopter und diverser Militärcamps: ich glaube fast, ich befinde mich im Manöver. Das Flaggentheater setzt sich fort. Unmengen von Traktoren und LKWs mit vor lauter herangekarrten Jublern schier berstenden Anhängern fahren vorbei. Aber das Chaos ist erst perfekt, als eines dieser ungezählten Fahrzeuge ob des Gedränges vollbeladen in eine Böschung kippt. Jegliche Verkehrsordnung ist dahin. Jeder drängelt jeden von der Asphaltspur. Und Herren von der Polizei, die sich ansonsten an jedem Ortseingang so gerne pfauenartig aufbauen, kriegen absolut nichts mehr auf die Reihe.
Es dauert gut eine Stunde, bis ich an der, einem Ameisenhaufen ähnelnden Unfallstelle vorbei bin. Wer sich auskennt, entflieht über Feldwege. Abenteuerlichste Aktionen finden statt: keine Ahnung, wie der Rettungswagen schließlich zu den Verletzten durchgedrungen ist.
Ich erlebe eine filmreife Szene. Am meisten berühren mich jedoch diese armen, jubelbereiten Menschen mit ihren Papierfähnchen, die in ihren Festtagsklamotten schicksalsergeben und in sengender Hitze auf den Anhängern ausharren, um ihren König zu sehen.
Eigentlich kann ich gar nicht richtig glauben, dass die Verehrung wirklich so groß ist, dass die hiesige Bevölkerung anscheinend keinerlei Widerspruch zwischen ihrer Armut und dem augenscheinlichen Aufwand einer solchen königlichen Landpartie macht. Andererseits hört man immer wieder, der junge Regent mache endlich Ernst mit der Korruptionsbekämpfung. Und solche Reisen durch sein Land seien in erster Linie dazu da, Präsenz zu demonstrieren.
Wie dem auch sei, hinter Ouazzone trennen sich offensichtlich unsere Wege. Denn ab hier sieht alles wieder aus wie gewohnt: Mülltüten flattern fröhlich an Stacheldrahtzäunen. Öffentliche Gebäude warten weiterhin auf ihren dringend benötigten Anstrich. Das Fahnenmeer hat sich bis auf weiteres zurückgezogen.
Irgendwie muss ich an die ehemalige DDR denken, in der sich Genosse Honecker auch nur zu allzu gerne durch potemkinsche Städte hat chauffieren lassen. Der realsozialistische Begriff „Winkelelemente“ meldet sich wieder.