Berlin, Brandenburger Tor
Gestern Nachmittag nach der Probe mit dem ICE nach Berlin. Hatte mich dagegen entschieden, erst heute gemeinsam mit der Big Band anzureisen, weil die Variante, morgens da aufzuwachen wo man abends auftritt deutlich entspannter ist. Die Berliner Innenstadthotels sind vor lauter „Zwanzig Jahre Deutsche Einheit“ restlos ausgebucht, sodass wir notgedrungen im Hotel Müggelsee in Köpenick einchecken. Natürlich leicht suboptimal, was meinen obligatorischen Stadtbummel nach dem Frühstück betrifft. Erst um halb zwei fahre ich mit Didi zum Prenzlauer Berg, wo wir erst mit Markus Feldenkirchen zu Mittag essen, um uns danach mit Olli und Mario in der „Schwalbe“ zum FC-Gucken (2 : 3) zu treffen. Anfang September hatte mich Markus, der hauptberuflich als Journalist beim Spiegel arbeitet, mit seinem Erstlingsroman „Was zusammengehört“ überrascht. Eine ebenso liebevoll wie stilsicher geschriebene Geschichte, ohne jegliches Bemühen Coolness vorzutäuschen. Nichts an dem Roman wirkt angestrengt oder konstruiert, es fällt schwer ihn aus der Hand zu legen, weshalb ich ihn dann auch von Anfang bis Ende fast durchgelesen und danach sofort meiner sechzehnjährigen Tochter Isis weitergegeben habe. Bin sehr gespannt, wie sie ihn findet. Schließlich findet der größte Teil der Story in ihrer Altersgruppe – allerdings vor zwanzig Jahren – statt. Sollte ich jetzt jemanden neugierig gemacht haben, so empfehle ich zusätzlich noch zu überprüfen, ob Bölls „Ansichten eines Clowns“ und „Irisches Tagebuch“ in Reichweite liegen.
Vom Prenzlauer Berg spazieren wir in aller Ruhe zum Brandenburger Tor, wo bei unserer Ankunft bereits Ulla Meinecke und Julia Neigel mit Edo Zanki und seiner Band auf der Bühne sind. Aus welchem Grund ausgerechnet Coca Cola, dem Hauptsponsor dieses Spektakels, gestattet wird, das ehrenwerte Brandenburger Tor mit LED-Werbebanden der penetrantesten Art zu verschandeln, ist mir ein Rätsel. Billy Wilder hätte vermutlich seine helle Freude an der Szenerie gehabt: „One, two, three – revisited! Coca Cola feiert seiner Sieg über den Kommunismus“. Wenn mir diese trittbrettfahrenden LED-Laufbänder schon bei Fußballspielen den letzten Nerv rauben, so empfinde ich sie hier doppelt und dreifach peinlich. Wie geschmackbefreit sind diese Werbefuzzies eigentlich? Ist die nächste Stufe womöglich die, dass man Wahrzeichen demnächst auch wie Hallen oder Stadien mit Sponsornamen versieht? „Coca Cola-Tor“ „Nokia-Säule“, „Maggi-Dom“? Dem globalisierten Schwachsinn sind offenbar auch keine Grenzen mehr gesetzt. Es lebe die Einheit! Gut, dass ich mir diesen Scheiß nicht von vorne anschauen muss.
Backstage ist vor unserem Auftritt alles erfreulich übersichtlich und entspannt professionell organisiert. Keinerlei Schnickschnack und vor allem hindern mich keine „sehr, sehr wichtigen Personen“ daran, noch einmal im Schnelldurchgang meine Erinnerungen an diesem Ort zu rekapitulieren, sodass sich sogar noch kurz vor Showtime so etwas wie Andacht einstellt.
Schön, dass Micha vorbeikommt, der natürlich in erster Linie auf die Big Band-Version seiner „Unger Linde“-Komposition gespannt ist, dem aber auch anzumerken ist, wie sehr er sich aufs Studio freut. Unser zeitlich leider streng begrenzter Auftritt findet dann so relaxed statt, als hätten wir dieses Programm schon mindestens zehnmal vor Publikum gespielt. Unfassbar, auf welchem Level dieser Kollegen musizieren. Nicht auszudenken was abgehen wird, wenn wir die Deutschlandlieder mal zu unseren Bedingungen aufführen. Erfreulicherweise stehen uns im November bei den Leverkusener Jazztagen zwanzig Minuten mehr zur Verfügung. Mal sehen, ob ich die eine oder andere Nummer noch austausche damit wir, bevor die Arrangements dann bis Ende Mai nächsten Jahres wieder in der Schublade verschwinden, wenigstens alle Songs einmal unter Konzertbedingungen gespielt haben. Dennoch: Machen wir uns nix vor, dieser Auftritt heute ist nicht höher einzustufen als ein Gig auf einem Weihnachtsmarkt. Wir haben unter Wert vor Laufpublikum gespielt, diesem allerdings ordentlich was geboten. Was von uns weiter hinten auf der Straße des 17.Juni, halbe Strecke zur Siegessäule, noch zu hören war, möchte ich gar nicht wissen. Die zugelassenen 80 db waren jedenfalls lächerlich, da ist das Grundgeräusch eines DB-Speisewagens lauter. Bereue unsere Teilnahme an dem Spektakel zum 20-jährigen Jubiläum der deutschen Einheit trotzdem nicht. Was will man erwarten, wenn so was dermaßen holterdipolter zusammengestellt wird und Otto Normalverbraucher vor lauter Festivitäten in Berlin und Bremen schließlich den Überblick verliert!? Hatte das genauso erwartet, insofern bin ich auch nicht enttäuscht, im Gegenteil. Auch Jogi Löw braucht Testspiele außerhalb des Trainingslagers.